Rose
Unkenntliche Geschichte
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I. Vorspiel
Das erste Mal sah ich Maximilian Hecker, bevor er berühmt wurde, auf einer Karaoke-Party. Ausgerichtet wurde sie von der großen Szene-Legende, Chanteuse und Schriftstellerin Almut Klotz, die sich seit dem Ende der Lassie Singers darauf verlegt hat, als idiotisch verschriene Freizeitbeschäftigungen umzucodieren und in die Salons der Bohème einzuführen. Mit Karaoke ist ihr das damals vielleicht nicht ganz so gut gelungen wie unlängst mit dem Chorgesang, aber immerhin sprangen ein paar gute Feten dabei raus.
Zu den Texten, über die an diesem Abend der kleine, fröhliche Ball hopste, gehörten nicht nur "Es Fährt Ein Zug Nach Nirgendwo" und "Westerland", sondern auch "The Drugs Don't Work" von The Verve. Die ersten Töne des Liedes riefen eine magische Erscheinung auf den Plan (ähnlich wie "Ich Rufe Dich, Galaktika" in "Hallo Spencer"): Am Mikrofon stand plötzlich ein blutjunger Richard-Ashcroft-Lookalike mit geschlossenen Augen. Seine Frisur sah aus, als wäre er zum Meister-Coiffeur gegangen und hätte gesagt: "Einmal den teuersten Britpop-Schnitt, den sie haben, bitte." Die hauchzart überproportionierte Nase mehrte – auch wenn man nicht den vom derben Volksmund behaupteten Zusammenhang herstellte – den Reiz seines ansonsten perfekt geschnittenen Gesichts. Stimme und Intonation sagten uns Zuschauern: "Deutschland braucht den Superstar nicht mehr zu suchen", und wir fühlten uns wie das schmächtige Pärchen, das auf dem Karaokemaschinen-Bildschirm durch ein weichgezeichnetes Stück Japan turtelte.
Als ich meine – kurzzeitig von Rührung und dem achtgestrichenen C in "Take On Me" lahm gelegte – Stimme wieder hatte, versuchte ich mich durch ein Gespräch in das Bewusstsein des Künstlers zu drängeln. Von diesem Gespräch blieben mir drei Dinge im Gedächtnis. Erstens: die Weisheit, eine Band sei wie eine Fußballmannschaft. Zweitens: die bizarre Vorliebe des Sängers für den österreichischen Dichter Heimito von Doderer. Und drittens: wie er hieß. "Maximilian Hecker", dachte ich, bevor ich das Taxi rief, "ein Name, den man sich wird merken müssen."
II. Urlaub
Es dauerte dann aber doch eine Weile, bis ich den Namen und die Stimme wieder hören durfte, und zwar bis zum vorletzten Sommer. Mein übertrieben reicher Onkel aus den USA hatte eine mallorquinische Finca mit der Grundfläche Gracelands gemietet und mich und meine Freunde für eine Woche dorthin eingeladen. Das Anwesen befand sich in einem dieser verwunschenen Winkel, von denen es auf der Insel nur noch wenige gibt. Es war der herrlichste Urlaub meines Lebens und gleichzeitig die reine tristesse royale! Wir verbrachten die Tage in brütendem Stumpfsinn und die Nächte in der schalen Euphorie dekadenter Ausschweifungen. Der Diener brachte uns morgens Aspirin und abends chemische Drogen, die unser Gefühl von Sinnlosigkeit, Leere und Schuld verstärken sollten, während die Sterne vorwurfsvoll auf uns herunterfunkelten.
Vielleicht habe ich es dem damaligen Intro-Volontär S. O. zu verdanken, dass ich in jenem Urlaub nicht für immer das Kind in mir betäubte und innerlich ausbrannte. Er hatte sich nämlich "Arbeit" (sprich Promo-CDs) mitgebracht, u. a. Heckers Debüt-Album "Infinite Love Songs". Nicht die Chartbreaker waren es, die jene in der spanischen Schwüle beinahe verrostete Seite alles versöhnender Melancholie in mir wieder zum Klingen brachten – es waren die zunächst unscheinbaren Balladen mit ihren majestätischen Bögen, auf denen ein glockenklares Falsett von einer süßen Wendung zur nächsten glitt. Auf einmal schien unsere organisierte Antriebsschwäche einen metaphysischen Sinn, eine moralische Bedeutung zu haben, und die Sterne schienen ganz mild, als wollten sie uns Verdammte behüten. Von besagtem Volontär wurde mir übrigens zugetragen, er sei jetzt religiös und durchs viele Fasten abgemagert. Das tut mir freilich Leid und hätte nicht gleich sein müssen. Trotzdem danke für damals.
III. Das Appartement
Wenn ich Maxi (so der Rufname) später in einem der gar nicht so zahlreichen Berliner Clubs traf, in die man gehen kann, behandelte er mich mit der Höflichkeit eines Menschen, der einen kennt und nicht weiß woher, der einen grüßt und nicht weiß von wem; ferner mit der Vorsicht eines aufstrebenden Semi-Stars, der ahnt, dass sein Image auch von denen im Dunkeln abhängt. Eine spezielle Note bekam dieses weit verbreitete Verhalten durch eine ihm eigene schüchterne Eitelkeit.
Obwohl unser Verhältnis also weit davon entfernt war, "gute Bekanntschaft" genannt zu werden, zwang mich eines Tages Not zu der Frechheit, Maxi anzurufen. Ich kannte nämlich in Berlin sonst nur schlecht equipte Musiker, brauchte aber dringend schnell ein Achtspurgerät. Hecker sollte mir eins leihen. Ich wurde von ihm erstaunlich freundlich eingeladen und warm empfangen. In seiner Wohnung standen viele Keyboards, ein paar Gitarren, ein Übungsschlagzeug, das kein Geräusch macht, wenn man draufschlägt, und ein Bücherregal, das ausschließlich Werke deutscher Autoren enthielt. Aufgeschlagen neben dem Bett lag "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre" von Heimito von Doderer. Wir kamen ins Gespräch, und irgendwann wurden mir sogar ein paar Lieder aus der Vorproduktion des Albums vorgespielt, dessen baldiges Erscheinen den Anlass dieses Artikels darstellt.
"Fool" war der erste Song, den ich hörte und der mich gleich mit der wie Schuppen von den Augen fallenden Selbstverständlichkeit eines Klassikers umfing. "Das ist eins von den Liedern, bei dem es fast anmaßend ist, zu sagen, man habe es geschrieben", sagt Maxi und trifft damit nicht nur den flirrenden Ton zwischen Understatement und Angeberei, sondern auch den Kern der Sache. Diese scheinbare Autorenlosigkeit einer Melodie, die man schon lange zu kennen glaubt und die doch nicht geklaut ist, so naheliegend und doch nicht abgeschmackt. Alles ist auch entsetzlich einfach – eine Hand voll Akkorde und fast nur drei Töne -, bis in der Bridge ein 11/8-Takt reingrätscht.
Ungleich komplexer ist "Kate Moss", das zweite Stück, das ich präsentiert bekam. Die gewohnte Trauer und der kontrollierte Kitsch in Heckers Werk wird hier potenziert durch ein bombastisches, ja, fast art-rockiges Arrangement. Unheimlich schön spielt ein Klavier krumme Rhythmen und Harmoniewechsel sowie verminderte Dreiklänge. Und ausgerechnet während dieses vor althergebrachter Musikalität strotzenden Stücks gesteht mir der Tonschöpfer: "Manchmal weiß ich gar nicht, ob ich wirklich ein Musiker bin oder nur ein Pretender." Erst denke ich, dass das wohl Komplimente-Fischen sein muss, dann komme ich aber zu einem anderen Schluss: Dieser Künstler ist tyrannisiert von der Romantik seiner eigenen Kunst! Eine so unspielerisch auf Gefühlsdichte und Eigentlichkeit abzielende Musik muss ja ihren Schöpfer samt Schaffensprozess verklären. Kein Wunder, dass der da nicht mitkommt und glaubt, irgendwas stimme nicht. Ich aber kann ihn beruhigen: "Musik machen und so tun, als ob, ist das Gleiche, Maxi. Alles andere ist Irrsinn aus dem 19. Jahrhundert."
Im weiteren Verlauf des Gesprächs erfuhr ich dann, dass ein Musiker der Golden Showers bei den Aufnahmen mitgespielt habe, und vielleicht war es ja der versaute Bandname, der das Eis brach. Als ich fragte, ob er abends noch auf das Sitcom-Warriors-Konzert gehe, sagte er: "Ich weiß nicht, eigentlich würde ich nicht mehr weggehen. Ich bin müde und muss morgen früh raus, um an meiner Karriere zu basteln. Andererseits könnte die Frau da sein, in die ich von fern verliebt bin. XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX Das ist sie übrigens." Er zeigte mir ein Foto von schlechter Qualität, das ein punkig geschminktes Frauengesicht von guter Qualität abbildete. Ich machte Maxi Mut und versprach, ihn anzurufen, wenn ich das Girl an diesem oder sonst einem Abend sehen sollte, und verabschiedete mich bald. "Ach so, wie heißt sie eigentlich?" fragte ich beim Händeschütteln. "XXXXX", antwortete er. "XXXXX", hallte es auf dem Weg durchs Treppenhaus in meinem Kopf nach.
IV. Golden Gate
Etwa eine Hollywood-Ehe später, also etwa vor einem Monat, traf ich Hecker zufällig im Golden Gate, einem dieser halblegalen Bruchbudenclubs, die die Gentrifizierung noch von Mitte übrig gelassen hat. Ich versuchte mich etwas in geistreicher, oberflächlicher Konversation nach französischem Vorbild, aber der Künstler war, untypischerweise, ernsthaft besoffen und vollkommen unzugänglich für charmanten Blabla und halbe Sachen. Stattdessen erzählte er mir ansatzlos die folgende Geschichte: "XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX. Jens, sag mir, was ich machen soll!" lallte der Lover und zeigte mir noch einige Kurznachrichten von IHR, in denen unter anderem der Satz vorkam: "XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX."
"Das wird schon, das wird schon", versuchte ich das Häufchen Liebe in meinem Arm zu trösten, schlug aber schnell einen anderen Ton an, als ich begriff, was hier für uns drin war: "Jetzt pass mal auf! Beruhig dich und hör mir zu! Das mit deinen Gefühlen ist ja schön und gut – aber in erster Linie ist das dieee Geschichte. Hier durchdringen sich Kunst und Leben aufs dichteste, und du bist das Medium. Mach mich stolz und übernimm die Verantwortung, die damit verbunden ist! Du musst diese Story jedem gottverdammten Schmock und Viva-Moderator erzählen. Charlotte Roche schickst du am besten gleich ein Fax. Besser kann man eine Platte nicht vermarkten." Ich merkte, wie mein Gegenüber ein paar Dezibel nüchterner wurde. Ich sah durch die lammfrommen Augen, wie in dem schönen, aber ach so jungen Geist abgewirtschaftete, verrottete Konzepte wie Intimsphäre und Seriosität wirksam wurden. Ich musste nachsetzen: "Guck dir doch mal das Klatschdefizit in der deutschen Musikpresse an. Niemand erzählt von Drogen, Kindheit oder Liebesleben, weil alle Angst haben, ihre Eltern könnten die Artikel lesen. Den Engländern ist der Pop-Olymp ein zweites Königshaus, eine Vision ihrer verschütteten Möglichkeiten, eine radikalere Realisation ihres Daseins. Und was haben wir?
Herbert Grönemeyers tote Frau und sonst nichts. Ich weiß, du hast nicht die Statur und das Temperament, den Bayerischen Hof in Schutt zu legen, aber du hast eine Lovestory, nach der sich vielleicht sogar Liam Gallagher seine wund gedroschenen Finger lecken würde." Ich denke, ich hatte mein Bestes gegeben und alles Recht der Welt, das betretene, betrunkene Schweigen Heckers als "Jawohl, Alter, so wird's gemacht" zu deuten. Auch als der Künstler mich im weiteren Verlauf des Abends mehrmals fragte, wo er hier eigentlich sei, dachte ich lediglich: "Toll dieser Junge, trotz des Erfolges ganz er selbst geblieben" und zweifelte nicht an der Wasserdichte meiner Autorisierung.
V. Rose (Vorsicht, Tempuswechsel)
Am nächsten Morgen klingelt das Telefon. Im Intro-Büro. Am anderen Ende der Leitung bin ich. "Ich möchte Ihnen einen Artikel über Maximilian Hecker anbieten. Hab da 'ne ziemlich heiße Story am Wickel. Kann aber noch nicht drüber reden." – "Okay Friebe. Ich will 17.000 Zeichen, warm", hörte ich die abgezockte Stimme des Chefredakteurs antworten. Nicht nur warm, sondern brandheiß sollte die ganze Sache noch werden.
In der aus III. bekannten Wohnsituation wird mir unter Aufsicht des Künstlers das taufrische Produkt verabfolgt. Ich frage Sachen wie: "Und was hat sich geändert seit dem letzten Album?" denn schließlich bin ich diesmal als Journalist hier. Geändert hat sich einiges, angefangen beim Coverdesign. Anders als bei der explizit angegeilten Frotteeunterhosen-Frau in ÷l auf "Infinite Love Songs" gibt es Erotik jetzt nur als Metapher. "Rose" liest man, und eine Rose sieht man auch. Sonst nichts. Nach der hochglanzlackierten Schmuddeligkeit jetzt hochglanzlackierter Hochglanz. Das gilt auch für die Songs. "Kate Moss" habe ich ja noch von der Vorproduktion als einen extrem luxuriösen Schmachtfetzen in Erinnerung. Jetzt, in der Endversion, klingt er noch eleganter und – im positiven Sinne – glatter.
Das liegt vielleicht auch daran, dass Hecker schließlich doch wieder weitgehend auf die Hilfe anderer Musiker verzichtet und alles selbst gemacht hat: "Ich glaube, dass ich wahrscheinlich doch der beste Schlagzeuger für meine Musik bin. Nicht dass ich schrecklich versiert wäre, aber kein anderer hat so viel Angst um die Stücke wie ich, und deswegen würde auch nie ein anderer so minimalistisch spielen, wie es die Stücke brauchen." Minimal-Schlagzeug also bitte schön, denn das totalitär herrschende Pathos braucht Raum – und vor allem Zeit. Ich will mal so sagen: Wenn man zu Beginn eines Liedes von der neuen Platte ein Ei in kochendes Wasser tut und am Ende dieses Liedes wieder herausnimmt, ist das Ei sehr hart. Maxi erklärt das Phänomen: "Der lange Atem ist schon eine bewusste Entscheidung, denn irgendwie soll die Platte ja auch eine Zumutung sein. Die Hörer sollen leiden. Sie sollen so leiden, wie ich gelitten habe. Außerdem wollte ich mit diesen epischen Sachen meinen ästhetischen Standpunkt klären. Ich werde ja noch viel mit Nick Drake, Elliott Smith usw. verglichen. Davon fühle ich mich zwar nicht beleidigt, aber doch missverstanden. Mir geht es ja nicht um so ein sprödes Songwriting, sondern um die große Geste."
Man muss sich vorstellen, dass der Künstler all dies, auch das mit dem Leid, hundertprozentig im Ernst sagt. Aus Verlegenheit schließe ich deshalb die Augen und visualisiere die Platte, die wir hören, als ein rauschendes Meer aus Tränen. In den Wellen baden zweistellige BPM-Zahlen, die aussehen wie die kleinen Preise aus der Plus-Werbung. Aber was ist das? Zwei schunkelnde Bojen! Das sollen wohl die beiden stücke "Daylight" und "My Love For You Is Insane" sein. Sie teilen sich die Planstelle "Schwermut für Discofreunde", die auf "Infinite Love Songs" noch der Titeltrack alleine innehatte. Allerdings laufen sie in Discos unterschiedlicher Jahrzehnte. "Daylight" ist eine eindeutige 80er-Jahre-Nummer, die sich vom üblichen Revival dadurch unterscheidet, dass sie eher das filigrane Songwriting kommerziellen Synthie-Pops aufgreift als die coolen Sounds des New Wave. Ein softer Oktavbass, ein guter Anlass, zum zweiten Mal in diesem Text A-ha anzubringen. "My Love For You Is Insane" hingegen beschwört (das musste ja irgendwann kommen) die Geister von gestern. Depressive Melodien mit hektischen Djungle-Beats haben mir unter dem Namen TripHop gründlich das letzte Drittel der Neunziger versaut, und so sehen wir uns also wieder – ich muss zugeben, ich hab's mir schlimmer vorgestellt.
Höhepunkt und Ende des Albums "Rose" ist das Titellied. Als ich es höre, fühle ich, wie gerade im Himmel eine Ehe zwischen dieser Musik und dem Showdown eines teuren Kinofilms geschlossen wird. Eine Gitarrenwand wird gebaut und bricht zusammen, übrig bleibt das Klavier als Begleitung für den lyrischen Epilog: "My life is swinging / it is endless / it is endlessly / falling / it falls from heaven / and you will be / washed to my shore."
Genau in dem Moment, als wir dort sitzen und den letzten Takten "Rose" zum Abschied winken, klingelt das Hecker'sche Telefon ... Und jetzt, lieber Leser, wird es etwas vertrackt. Denn ein paar Minuten, bevor ich diesen Satz, den Sie gerade lesen, geschrieben habe, klingelte mein Telefon, am anderen Ende Hecker. Ob ich denn eigentlich irgendwas über die Sache mit XXXXX schreiben wolle. "Ach, das ist ja ein witziger Zufall", sagte ich, "ich sitze gerade am Schreibtisch und bin fast fertig. Deine Liebesgeschichte und ihre pikanten Details bilden so ziemlich das Herzstück, sozusagen den "Aufhänger" des Textes. Ist doch in Ordnung, oder? Wir hatten das doch besprochen, damals im Golden Gate, weißt du noch, Maxi? Maxi? Hallo?"
Was folgte, war eine zart vorgetragene, aber inhaltlich entschiedene Intervention des Künstlers, weswegen ich jetzt hier schließen und sämtliche interessanten Stellen des Textes vom Layouter schwärzen lassen muss. Man darf gespannt sein.