Dem Himmel so nah


back Maximilian Hecker hängt in den Seilen. Genauer gesagt schaukelt er auf einer Art Trapez, das an seiner Hüfte befestigt ist. Den ganzen Tag schon. Längst hat er sich blaue Flecken geholt, aber das ist nicht so schlimm. Er kann einiges einstecken. Vor allem, wenn es um seine Musik geht. Die Wand hinter ihm ist weiß und hat keine Ränder. Sie wölbt sich vom Fußboden bis zur hohen Decke. Von weitem sieht es so aus, als würde Hecker mitten in einer Wolke sitzen.

Schon beim Betreten des Studio 2 im Ballhaus Rixdorf hat sich eine merkwürdige Schere aufgetan. Auf der einen Seite Scheinwerfer, Kabel, Kameras, Stühle und Menschen, die herumstehen oder den Aufgaben nachgehen, die der Drehplan für sie vorsieht. Auf der anderen Seite der schaukelnde Hecker, ganz allein, vor einem Hintergrund, dessen Tiefe das Auge nicht bestimmen kann. Zwei Bühnenarbeiter ziehen Hecker an einer Seilwinde nach oben. Die Kamera läuft. Er kippt nach vorne und breitet flehend die Arme aus. Eben hat er noch gelacht. Jetzt verziehen sich seine Gesichtszüge wie in Agonie. Hecker ist ein Meister der Inszenierung von Schmerz.

"Die Seile werden nachher am Rechner wegretuschiert", flüstert die Regieassistentin. "Da muß jedes Einzelbild nachbearbeitet werden". Außerdem soll der Hintergrund nachträglich eingefärbt werden. Wenn alles fertig ist, wird es so aussehen, als würde Hecker vom Himmel fallen.

Ein paar Tage später hat sich Hecker, den ich ab hier aus rhetorischen Gründen lieber beim Vornamen nennen möchte (und zwar beim vollen Vornamen. Im Kitty-Yo-Büro und beim Videodreh habe ich gehört, wie sie ihn "Maxi" rufen. Nicht "Max", sondern "Maxi". Ich fand es unmöglich, jemanden, der in so jungen Jahren schon einen solchen Ernst und eine solche Würde ausstrahlt, mit einer Verniedlichung zu belegen, die man wahlweise mit einer Frauenzeitschrift oder einem Wellensittich assoziiert) – also noch mal von vorne: Ein paar Tage später hat sich Maximilian in einen Sessel fallen lassen. Sein Kinn liegt auf der Brust, die Augen sind geschlossen. Die Starbucks-Filiale am Hackeschen Markt ist eine Blase. Draußen spielt die Stadt ihre Sinfonie. Fußgänger, Lieferwagen, Radfahrer und Straßenbahnen ziehen am Fenster vorbei. Drinnen sitzt man zusammen mit amerikanischen Rucksack-Touristen wie in einem geräumigen und gut gepolsterten Aquarium. Die jungen Milchaufschäumer hinter der Theke bemühen sich stets, auf die amerikanische Art freundlich zu sein. Und die Musik ist auch nicht schlecht. Gerade singt Nick Drake ein leises Lied. Wie passend.

Hecker, also Maximilian, öffnet die Augen. Er besitzt keine Kaffeemaschine. Deshalb kommt er öfter hierher. Der Kaffee ist zwar unsinnig teuer, aber dafür kann man ungestört sitzen und herrlich belanglose Zeitschriften wie "Bunte" oder "Gala" lesen, um sich über die Kollegen aus dem Showgeschäft zu informieren. So hat er zum Besispiel erfahren, dass Gwyneth Paltrow und Chris Martin heiraten. Das hat ihn irgendwie eifersüchtig gemacht. "Es klingt vielleicht blöd, aber ich hatte noch nie eine Freundin." Bevor ich dreimal "Morrisey" sagen kann, fügt er hinzu: "Aber um mein Sexleben braucht man sich keine Sorgen zu machen."

Im letzten Herbst ist Maximilian sechs Wochen lang jeden Morgen mit Bauchschmerzen aufgewacht. Früher als sonst, ans Ausschlafen war nicht zu denken. Es war die Zeit, in der er sein zweites Album aufgenommen hat. Eine qualvolle Zeit. Ständig begleitete ihn die Angst, die Möglichkeiten seiner Stimme nicht voll und ganz auszuschöpfen, zu versagen, wenn das rote Licht angeht. Doch was bei den Aufnahmen herausgekommen ist, klingt so ,als könnte es gar nicht anders sein. Jeder Akkord, jeder Seufzer scheint seinen unverrückbaren Platz zu haben im Reigen der Sehnsüchte und Liebesqualen.

Mit seinem Debüt "Infinite Love Songs" hat er sich an den Rand eines Abgrunds der großen Gefühle begeben. Mit "Rose" ist er noch einen Schritt weiter gegangen. Er hat das verwirklicht, was er eigentlich schon mit der ersten Platte vorhatte: Dass es orchestral und episch klingt. Die elf Stücke wurden nur mit einem Powerbook zusammen gesetzt, doch sie entfalten sich in einem Ausmaß, als wären sie in den Abbey-Road-Studios entstanden.

Und bis auf vier Bassläufe hat Maximilian wieder alles selbst gemacht. Er operiert mit Kuschelrock-Klischees, die selbst Barry Manilow die Schamesröte ins Gesicht treiben würden. Doch wenn Maximilian davon singt, dass ihm die sieben Tage, in denen er nichts von ihr gehört hat, wie 1000 Jahre vorkommen, klingt das weder abgeschmackt noch kalkuliert. Im Gegenteil: Es wirkt. Das mag daran liegen, dass es Maximilian gelingt, sein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein ("Schon als ich mein erstes Lied geschrieben habe, war mir klar, dass es überhaupt nichts bringt, wenn nur ich das höre") mit einem Universalitätsanspruch ("Meine Umgebung spielt dabei keine grosse Rolle. Es geht nur um mich und die Ewigkeit") und einer antrainierten Musikalität ("Ich kann so gut mit Instrumenten umgehen, dass man denkt, ich würde sie beherrschen") in Einklang zu bringen.

Dass seine Musik so stimmig und bewegend ist, hat noch einen anderen Grund: Die Person, die in der Filiale einer amerikanischen Gastro-Kette sitzt und über Einsamkeit und Erlösung redet, ist deckungsgleich mit der Figur, die die Stirn hat, an einem heißen Julinachmittag auf die Bühne zu gehen und Leuten, die ihn noch nie zuvor gesehen haben, eine irritierende Zeitlupenversion von "Take On Me" vorzusingen, so wie Hecker es vorletztes Jahr beim Fest in der Auguststrasse getan hat. Im Unterschied zur Trauer ist die Melancholie eine Form von Schmerz, die mit Lust besetzt ist. Maximilian lebt und zelebriert diese Lust am Schmerz. "Früher habe ich immer gesagt, dass ich nur deshalb so schleimige Texte schreibe, damit die Mädchen Mitleid mit mir haben. Das war eine Schutzbehauptung. Ich schreibe das, was ich wirklich fühle."

Maximilian ist einer dieser Einzelgänger, die sich von der Anonymität und der Vielfalt der Großstadt anziehen lassen und zugleich daran verzweifeln. "Diese Stadt ist so kalt. Ich bin seit fünf Jahren einsam. Am schlimmsten ist es Sonntagmorgens, wenn man leicht verkatert aufwacht. Es ist Winter und der Himmel ist grau. Dann spült man Geschirr. Aber eigentlich möchte man sterben."

Doch zum Sterben ist Maximilian Hecker zu jung und zu talentiert. Außerdem sieht er nicht nur bedeutend besser aus als z.B. Erlend Oye. Er kleidet sich auch eleganter. Und er denkt und handelt radikaler. Zumindest, was seine Vision von Musik betrifft. Mag sein, dass er ein Weichei ist. Aber wenn das der Fall sein sollte, dann habe ich noch nie ein zielstrebigeres Weichei gesehen. Er setzt alles daran, das letzte Lied zu schreiben. "Wenn es verklungen ist", sagt er, "kann das Universum implodieren. Klingt komisch, ist aber mein Ziel. Es geht mir nicht um die anderen, sondern darum, dass ich so ein mystisches, intensives Gefühl habe. Dass ich mich durch das Lied erlöst und in dem Lied aufgehoben fühle. Dass ich mich zurückkatapultiere in den Mutterbauch und gleichsam körperlos werde. Dann weiß ich: Das Lied ist fertig. Dann ist es mir auch egal, ob sich die Platte eine Million mal verkauft oder nur einmal. Dann habe ich mein Ziel erreicht."

Na ja, jedenfalls fast. Bevor das Universum in sich zusammen fällt, will er schon noch aufs Cover vom NME, an die Spitze der englischen Charts. Und an die Seite einer Frau, die ihn liebt, und die er liebt. Damit er sich endlich fallen lassen kann.