Maximilian Hecker – Authentisch ist voller Fehler


Es ist der 27. Juli und später Nachmittag, als sich plötzlich der Himmel über Köln verdunkelt und einem praktisch aus dem Nichts heraus Staubstürme um die Ohren fetzen. Der aufgrund dieser untrüglichen Indizien bereits befürchtete, nicht viel später dann natürlich auch folgende Wolkenbruch schwemmt uns durchs Stadtzentrum geradewegs hinein ins Café Lichtenberg, wo wir uns in einer Ecke zu Maximilian Hecker an den Tisch gesellen. Die witzlose Frage, ob denn er das Wetter bestellt habe, sparen wir uns und führen stattdessen eine anständige Begrüßung durch, woraufhin rund 40 Minuten Interview in entspannter Atmosphäre nichts mehr im Wege steht. Wir sprachen mit dem deutschen Experten für ätherische Pophymnen über sein an diesem Tag erscheinendes neues Album, sein druckfrisches Buch, Wirbellose und Steffi Graf.


Ich hab immer so 'ne märtyrerhafte, grandiose Vision meiner selbst,

erklärt Maximilian Hecker.

Der Isolierte, der gar nicht mehr das Haus verlässt, einen ganz langen Bart trägt, Joghurt- oder Essensflecken am Hemd hat, und unter einem Tremor leidet, irgendwie zwanzig Red Bull am Tag trinkt und dabei zum Autisten geworden ist, der dann also wahrscheinlich für psychisch krank erklärt wird – doch wenn er dann ans Klavier gesetzt wird, dann singt er wie ein Engel. Das ist so die grandiose und, wenn man so will, pubertäre und hyper-romantische Sichtweise. Der Romantiker ist einfach für mich dieser Joghurtflecken-Typ. Der Romantiker hat nicht irgendwie den Künstlerschal umgeworfen und säuselt herum, sondern der Romantiker zittert und hat Joghurtflecken und für ihn gibt es nur eine Möglichkeit, Frieden zu empfinden. Die Musik... oder Kunst im Allgemeinen.

Als wir zwischenzeitlich die Aufnahmefähigkeit des Diktiergeräts überprüfen, und, nachdem dies geschehen ist, wieder neu ansetzen, zeigt sich unser Gesprächspartner grüblerisch in Bezug auf das von ihm selbst erdachte, aber offenbar nicht ganz hieb- und stichfeste Joghurtfleckenmann-Gleichnis.

Die Frage ist allerdings, warum dieser Autist Joghurt isst,

kartet er nach

– das müssen wir eigentlich jetzt noch klären.

Da uns aber beiden keine halbwegs vernünftige Erklärung in den Sinn kommt, lassen wir es auf sich beruhen. Der Maximilian Hecker, der uns gegenübersitzt, hat Kautabak im Mund, ein Bart ist vorhanden, jedoch gestutzt und moderat, und Flecken finden sich auch keine auf seinem Shirt. Seine Hände ruhen entspannt auf der Tischoberfläche. Und doch hat der im ostwestfälischen Bünde bürgerlich aufgewachsene Musiker – wenn auch im übertragenen Sinne – viel mit diesem fiktiven Joghurt-Autisten gemeinsam, wie wir später erfahren werden. Die Momente aber, in denen er sich tatsächlich auch beim Musizieren auf der Bühne und vor Publikum frei fühlt, sind ausgesprochen rar gesät. Es fällt Maximilian Hecker schwer, die Erwartungshaltung der Zuschauer mit seiner eigenen in Einklang zu bringen; die optimale innere Ausrichtung live in der Balance zu halten, geling oft nicht. Deshalb entschloss er sich, dem Aufkommen von narzisstischem Ballast, wie er es selber nennt, im Rahmen der Aufnahme und auch der Live-Präsentation seines letzten Albums "I Am Nothing But Emotion, No Human Being, No Son, Never Again Son", hartnäckig vorzubeugen. Dass die Hölle der Verwesung verlässlich Gefühl kotzt, hatte er unlängst gelernt.

Beim letzten Album hatte ich mir ja auferlegt, genau so zu musizieren, wie ich's zu Hause mache. Also in der Jogginghose, und ich hatte noch 'ne Mütze auf. Meine Konzerte spielte ich ohne Setlist und habe häufig begonnen zu spielen, noch bevor das Publikum im Saal war. Um einfach alles zu brechen und dann von vornherein "über" dem Publikum zu sein,

beschreibt er sein Vorgehen.

Das Problem ist da, du kommst auf die Bühne, und fühlst dich unter dem Publikum, bis du deine Leistung gezeigt hast. Aber solange du die Leistung nicht gezeigt hast, bist du 'ne arme Sau. Und diesen Moment hab ich bewusst vollkommen weggelassen.

Wenn Maximilian Hecker im Verlauf des Konzertes merkt, dass die von ihm abgelieferte Leistung aus seiner Sicht unter keinen Umständen zu Zufriedenheit oder gar Begeisterung im Publikum führen können wird, beginnt er, dem einerseits mit Entschuldigungsansätzen, andererseits mit skurrilen Scherzen und – ultima ratio – Fäkalhumor entgegenzusteuern. Ansonsten hält er es nicht aus, fühlt sich als Versager.

Es geht darum, dass ich die Erwartungshaltung breche. Es ist ja eine Art von Arroganz, die ich zeige, wenn ich solche komischen, verstörenden Sachen mache, damit ich Macht wieder erlange, die ich nicht fühle, wenn die Augen auf mich schauen und ich genau jetzt etwas leisten soll. Ich muss Macht zurückerlangen, und ich muss auch den Raum öffnen durch diese Verstörung, sodass erstmal alle denken "Der spinnt!", und warum Elvismaske und so, und in ebendem Moment trickse ich sie aus, beginne ich, ein Stück zu spielen, während alle noch nachdenken.

Um nur ein Beispiel zu nennen, führte Maximilian während seines letzten Köln-Auftritts seinem zwar intensiv lachenden, aber doch reichlich verdutzen Publikum den von ihm so bezeichneten Käfer vor: Er legte sich spontan auf den Boden, streckte alle Viere von sich und zappelte hilflos – wie ein Käfer in Rückenlage das eben so macht. Dies pries er an als die ultimative Masche, garantiert jede Frau für sich zu gewinnen, bevor er unversehens wieder die Finger auf den Tasten hatte, als wäre all das nicht geschehen. Zwecks Verifikation zu Füßen des anderen Geschlechts ausprobiert hat er selbst diese Methode aber nie.

Das hab ich nicht gemacht, aber das wäre natürlich ein guter Test. Ich hab neulich ulkigerweise in einem chinesischen Musikmagazin gesehen, dass ich den Käfer mal bei so einem Fotoshooting gemacht habe. Und es ist ja so: Wenn du Ulkfotos machst, werden die immer genommen. Immer! Wenn man ein Shooting macht, NIEMALS so [schneidet Grimasse] machen... oder so [schneidet weitere Grimasse] – dann wird das IMMER genommen. Und so war's dann auch in dem Fall.

Hin und wieder kommt es aber auch vor, dass er nichts weiter unternehmen muss, er sich wohl fühlt und sich ohne Weiteres in erhöhter Position wähnt.

Es gibt aber tatsächlich auch Konzerte, bei denen ich überhaupt nicht so neurotisch bin. Bei denen ich von vornherein die Macht, also die Kontrolle über die Situation empfinde. Ich muss halt zwanghaft Kontrolle haben, und ich fürchte, dass, wenn ich die Kontrolle verliere, man mein wahres Ich sieht, und dann laufen alle aus dem Raum,

fügt er hinzu. Demgegenüber kann es wiederum sein, dass das Gegensteuern die Wertschätzung eines aus Hecker-Sicht eigentlich verkorksten Auftritts die ihm vom Publikum entgegengebrachte Euphorie noch zusätzlich anfacht. Der Künstler selbst kann das nicht nachvollziehen und ist sich einer Erklärung nicht sicher.

Das ist das Absurde: Immer wenn ich Zusammenbruchskonzerte habe und es mir nicht gelingt, und ich mich meilenweit unter dem Publikum fühle, dann scheint mir mein Publikum umso mehr zuzujubeln, weil sie es anscheinend dann noch authentischer finden.

Wer aber glaubt, das beschere Maximilian Hecker letztlich dann doch Genugtuung und einen Bonus an Selbstsicherheit für den Rest des Konzertabends, der irrt:

Meine Seele ist dann aus Stein. Da könnten hunderttausend Leute jubeln und rufen "Maxi, du bist der Größte", und ich würde denken: "Leckt mich am Arsch". Ich hab hier überhaupt nichts geleistet, und ich verstehe nicht, wieso ihr mich hier nicht mit Tomaten bewerft. Dann passt nämlich mein Weltbild nicht mehr zusammen: Wenn ich versage, muss ich bestraft werden. Und wenn ich versage und daraufhin aber belohnt werde, dann werde ich aggressiv gegen das Publikum.

Nahe liegt da auch, dass es Hecker unter der dann herrschenden Dominanz der autistischen Ader keine Wohltat ist, wenn er von von ihm selbst erdichteten Gesangschören aus dem Publikum begleitet wird, die aber fremden Kehlen entspringen.

Eigentlich will ich ja die Lieder auch alleine singen. Dann kann mich keiner ablenken und dann nimmt mir keiner das Lied weg. Das Schlimmste ist, wenn das Publikum mitsingt. Ich hatte das mal, dass eine Frau die zweite Stimme gesungen hat. Das fühlt sich so an, wie wenn mein Kind entführt wird. Ich hab' echt die Zähne zusammenbeißen müssen.

In Anbetracht seines siebten Studioalbums "Mirage Of Bliss" gibt es jedoch besonderen Grund, eine Art Licht am Ende des Tunnels des Konzertwahnsinns zu erblicken.

Ich spüre zwar diesen narzisstischen Ballast noch sehr häufig und immer wieder. Aber ich glaube, ich kann mittlerweile besser damit umgehen und es mir weniger anmerken lassen. Und jetzt, mit dem poppigeren Album, gibt es zumindest in Asien vielleicht wieder eher den Anspruch, meine Rolle des Popstars zu spielen.

In Asien nämlich ist "Maximilian Hecker" ein Zauberwort; ehemals ein vorwiegend am Hackeschen Markt in Berlin anzutreffender Cover-Straßenmusiker, hat er es in Fernost zum Popstar-Idol gebracht, spielt dort, wenn es hoch kommt, vor Tausenden, während hierzulande eher kleinere Clubs seinem Zuschaueraufkommen entsprechen. Es fällt schwer, sich nach dem bisher Geschilderten die Auswirkungen dieser enormen Dimensions- und Wahrnehmungsasymmetrie vorzustellen, die sich im Inneren des Künstlers abspielen. Das Verhältnis Hecker-Asien/Asien-Hecker ist geprägt von Missverständnissen, überdehnten Erwartungen und fehlgegangener Projektionen – und das von beiden Seiten. Doch auch in Deutschland herrscht kein Zustand runden, fließenden Verständnisses unter Landsleuten: Immer wieder die inhaltliche und expressive Ernsthaftigkeit der Musik Heckers in Frage gestellt, es scheint geradezu, als könne sich der Deutsche nicht mit allzu verschärfter Emotionalität und Verletzlichkeit arrangieren, und auch nicht mit echter, profunder Melancholie. Maximilian gefallen die Fragen nicht, die man ihm in diese Richtung stellt.

''Was sind deine Einflüsse?", "Warum machst du nicht mal was Flippiges?!"… "Warum bist du immer so traurig". ... Ich weiß nicht – wurde Leonard Cohen schon mal gefragt, warum er immer so traurig ist? Nicht, dass das jetzt wieder als direkter Vergleich verstanden wird, nein... aber... Mein Gott – Scarlet O'Hara, warum bist du immer so traurig. Mein Gott – "Vom Winde verweht" – Klassiker! "Casablanca"! Da sind die Leute traurig; die besaufen sich, weil sie Liebeskummer haben. Das wollen wir doch alle, oder? Und da muss man sich trotzdem scheinbar rechtfertigen für diese Art von Musik. Versteh ich nicht. Nie.

Auch das neue Album ist in diesem Sinne ein "trauriges" geworden. Und in der Tat bietet es mit seiner sauberen Produktion und der professionellen, vielschichtigen Studio-Aufnahme einen vorzüglichen Werkstoff, um – zumindest in ostasiatischen Breiten – weiter das Popstar-Image zu pflegen. Dass Maximilian Hecker sich ins Studio wagen oder auch einen Produzenten zu Rate ziehen würde, war aber mehr als fraglich, hatte er sich doch eben beim Vorgänger vollkommen freigestrampelt vom Konventionellen, Glattgebügelten und Marktorientierten – einfach, um sich frei zu fühlen, seine Musik nicht in ein Korsett zu zwängen und sein Innerstes unverfälscht in Melodien zu gießen.

Es ist dieses Vorgehen, bei dem ich wirklich alles selber mache und wo mir keiner reinredet und das Ganze von vornherein schon schlecht klingt, damit ich alle Erwartungshaltungen sofort breche. Damit ich die Erwartungshaltung während der Aufnahme nicht spüre. Ich will frei sein, ich muss frei sein. Es muss authentisch sein. Authentisch ist voller Fehler, ich kann halt nicht perfekt musizieren,

postuliert er unverblümt gegen sich selbst. Nicht zuletzt aber auch, um der eigenen seelischen Läuterung auf uneingetretenem Pfade einen Schritt näher zu rücken, schlug Maximilian Hecker nach seinen Touren zum Vor-Vorgänger "One Day" diesen Weg ein. Und dazu brauchte er neben seiner Stimme nichts weiter als das heimische Berliner Wohnzimmer, sein Klavier und ein Raummikrophon. Nicht viel anders wäre der Schaffensprozess von "Mirage Of Bliss" abgelaufen, wenn nicht Maximilians Asienmanager einem gewissen berufstypischen Drang Luft verschafft hätte.

Ich hab mich erst mal so ein bisschen treiben lassen. Ich habe "Mirage Of Bliss" ja zunächst auch in der gleichen Art und Weise aufgenommen wie sein Vorgängeralbum. Aber dann hat mein Asien-Manager mich sozusagen in den Arsch getreten und gesagt: "Versuch's doch nochmal, schick doch nochmal Demos an namhafte Produzenten." Das habe ich daraufhin auch getan, und es haben sich einige zurückgemeldet, worüber ich sehr erstaunt war. Youth war der Interessierteste von ihnen.

Ja, richtig gelesen: Es meldete sich Martin "Youth" Glover, Bassist von Killing Joke, der bereits bei zahlreichen erfolgreichen Produktionen meistens mehr als nur seine Finger mit im Spiel hatte. Das zweifellos vorhande Prestige jedoch war nicht der ausschlaggebende Grund, weshalb sich Maximilian letztendlich für ihn entschied.

Wir trafen uns und mir war ausschließlich wichtig, ob ich ihn sympathisch finde und nicht etwa, was er vielleicht für eine "Mission" haben mag. Youth war mir ausgesprochen sympathisch, und wir haben dann einfach beschlossen, das Album zu machen.

Auch die Kongruenz seiner frühen musikalischen Favoriten mit den Produktionen Youths spielte eine Rolle.

Es kam auch dazu, weil mir die Möglichkeit offen stand, gemeinsam mit dem Produzenten eines Albums aufzunehmen, das ich als Jugendlicher verehrt habe... Also "Urban Hymns" [The Verve, 1997; d. Red.] jetzt. Oder auch das erste Embrace-Album. Das war dann in gewisser Weise ja alles ein Widerspruch, nun mit einem so großen Produzenten ins Studio zu gehen, weil ich meine eigene Arbeitsweise eigentlich schon gefunden hatte.

Auch Youth seinerseits war mit einem deutlichen Vorsprung an Leidenschaft bei der Sache. Im Gegensatz zu einigen anderen Produzenten, die sich mehr oder minder interessiert zurückmeldeten, wollte er das Album unbedingt um des Albums Willen in Angriff nehmen – wobei seine Tochter eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielte.

Die anderen wollten einfach mehr Geld. Aber er hat gesagt, Geld spiele keine Rolle und er wolle es einfach machen. Hat dann erzählt, dass seine Tochter ihm meine Demo-CD geklaut hatte. Also "geklaut" im dem Sinne, um sie dann zu hören, was natürlich auch eine recht schöne Fügung ist. Wahrscheinlich hat ihn das noch zusätzlich animiert.

Nun also fand man sich wieder über einen Zeitraum von zwei Wochen täglich im ungeliebten Studio ein, und – sei es auch in Spanien und mit einer Art Urlaubs-Flair versehen gewesen – da man jetzt einen erfahrenen, zielstrebigen Partner an seiner Seite hatte, lief es nicht mehr ganz so intuitiv und selbstbestimmt wie noch zuvor daheim. Maximilian hatte keine andere Wahl, als sich Youth komplett anzuvertrauen und auch auf dessen Arbeitstempo und -philosophie einzusteigen.

Er wusste, dass ich nervös und kontrollierend bin, und hat dagegengearbeitet mit seiner buddhistischen Ruhe, mit seiner Zen-Ruhe, und wollte, dass ich nicht nachdenke. Wir wollten schon in gewisser Weise die Stimmung beibehalten von diesem "I Am Nothing But Emotion …"-Album, oder mindestens die Aufnahmeweise ähnlich halten. Das ist jetzt zwar am Ende doch nicht so gekommen, aber zumindest arbeitet er sehr schnell und lässt dem Künstler damit kaum Zeit zum Nachdenken. Und das hat mich sehr verwirrt zum Teil. Ich saß dann immer da und dachte, das war doch noch die Probe, habe dann immer gefragt ob ich mich vorbereiten oder vielleicht die Arrangements nochmal überarbeiten solle – aber nee, nächstes Lied. Immer direkt weiter. Und ich immer irgendwie "Neeeein neeeein, ich hab mich verspiiiielt" und so. Aber seinerseits hieß es immer "Nooo, it's greeeat.". Nennen wir es Go with the flow oder sowas. Nur für das Singen hat er mir ausgiebig Zeit gelassen.

Es dauerte ein Weilchen, aber schließlich beugte sich Maximilian Hecker der für ihn ungewohnten Vorgehensweise, die sein Produzent Tag für Tag wie selbstverständlich durchexerzierte – und zog daraus einigen Profit.

Ich hatte zunächst immer anfängliche Zweifel am Beginn des Tages – aber irgendwann hat man einfach nur noch abgeliefert und war auf Autopilot. Youth es geschafft, mich in einen Zustand zu versetzen, in der ich dann doch nicht so viel nachdenke. Jedenfalls nicht so viel wie bei den Vorgängeralben.

Auch die unbestrittene fachliche Kompetenz Martin Glovers im Technischen und seine Erfahrung färbten die Aufnahmen. Da Youth zudem seinen Schützling noch gar nicht kannte, bis der sich mit seinem Demotape bewarb, geschweige denn Heckers Musik je bewusst gehört hatte, sorgten auch die Primäreindrücke des Produzenten für neu geschöpfte, oder besser: wiederentdeckte Inspiration, auch den Gesang wieder in das für ihn optimale Licht zu rücken.

Er hat quasi die Unvoreingenommenheit gehabt, die mein Publikum vor "Infinite Love Songs" hatte. Wo ich abgefeiert wurde für dieses Weiche, das Warmduscherige, und er hat das genau so empfunden. Ich wollte beispielsweise einen Großteil des Albums mit der Bruststimme singen, nicht im Falsett, wobei mir natürlich auch im Kopf herumschwirrte, dass mein Falsett die meisten Musikredakteure irgendwann genervt hat. Und er hat dann gesagt: "Ey, wenn du diese Lieder mit der Bruststimme singst, dann klingt das wie Chris de Burgh – aber wenn du's mit dem Falsett singst, dann ist es Chemie, und dann wird durch die Stimme plötzlich ein kitschiger Song zu einem außergewöhnlichen Song."

Am Schluss steht die Erkenntnis, dass Maximilian Hecker gut daran getan hat, das Schicksal von "Mirage Of Bliss" ein Stück weit in Youths Hände zu legen, denn:

Das Album ist insofern sehr rund geworden, und ich höre es mir auch sehr gern an – was ich nicht von allen Alben behaupten kann.

Im Vergleich betrachtet, so konstatiert er ernst und selbstkritisch, sei seiner Meinung nach "I'll Be A Virgin, I'll Be A Mountain" von 2006 häufig gesanglich misslungen, was er sich vorher nicht einzugestehen getraut hatte. Spontan weiß er auch zwei Stücke zu nennen, die ihm auf seiner aktuellen Veröffentlichung besonders am Herzen liegen.

Ich glaube, der Song, den ich am liebsten höre, ist "The Time We Shared In Blaze And Laughter"… und "The Forsakenness Of Raging Love" ist der Song, den ich für meine Ex-Freundin geschrieben habe. Das wären also zwei für mich persönlich wichtige Songs. Übrigens –

fällt ihm dann ein,

"The Whereabouts Of Love" liegt mir gar nicht so am Herzen! Das ist das Stück, das wir als allerletztes aufgenommen haben, weil ich mir immer dachte, schieben wir's mal nach hinten. Am Schluss war es dann aber wenigstens das Liebligslied vom Youth.

Bei diesem Track handelt es sich trotzdem und interessanter Weise zugleich um die erste Singleauskopplung sowie auch den Opener des Albums. Maximilian bestätigt und räumt ein: "Ja, weil's am schnellsten die Leute packen kann. Und weil es nicht nur poppig klingt sondern auch am Schluss noch ein bisschen Irrsinn an sich hat und so.'"Abenteuerlich oder sonst außergewöhnlich war der kreative Prozess im Vorfeld der Aufnahme der Platte nicht, vielmehr ließe sich Maximilian in dem Zusammenhang diesmal eher als arbeitender Künstler beschreiben.

Ich weiß gar nicht, ob ich Geschichten zu dem Album habe. Viele Songs sind ulkigerweise in sehr geordneten Verhältnissen entstanden... und sehr arbeitend. Ich wusste gar nicht, wie die alle sind, bis wir sie aufgenommen haben. Und dann ist mir aufgefallen: Oh, die sind ja gut! Das wusste ich nie so genau bei den Demos. Ein Song zum Beispiel, den ich auch sehr mag, ist "Silent, Lucid Flashes", und den habe ich wirklich sozusagen am grünen Tisch geschrieben. Es ist der einzige Song, den ich geschrieben habe, während ich in Tokio wohnte. Ich hatte mir da extra ein Stage-Piano gekauft und dachte mir, ich müsste jetzt auch mal irgendwie arbeiten und Songs schreiben. Und daraufhin ist dieses Stück entstanden. Es ist sehr, sehr erarbeitet, aber man hört ihm das gar nicht mehr an.

Was scheinbar nie gewagte Erwägungen in dem Mann auslöst, der seine Ausbildung zum Krankenpfleger abbrach, um sich ganz der Musik zu widmen, der aber zu perfektionistisch – oder zu bescheiden – veranlagt ist, um schlichtweg und bedingungslos zu behaupten, er selbst habe Talent oder sei gar ein Profi seines Fachs.

Dann fragt man sich natürlich, woher das denn kommt, und ob man nicht vielleicht auch talentiert oder sogar ein professioneller Musiker ist, der richtig arbeitet, und nicht jemand, der einen eher kindlichen Gefühlsausdruck zeigt und nichts weiter macht, als bloß kitschige Lieder zu schreiben.

Diese Selbsteinschätzung verwundert, zieht man die überregionale Popularität und die umfangreiche Diskographie Maximilian Heckers in Betracht, ist aber doch kein intendiertes Understatement, sondern eher Ausfluss seines selbst-strengen Naturells.

Ein bedeutsamer emotionaler Faktor für den Inspirationspool des neuen Albums stellte auch die kurzzeitige Verlagerung des Lebensmittelspunks nach Tokio dar. Im Herbst 2010 zog Maximilian Hecker nämlich liebesbedingt in die Hauptstadt Japans um. Während er dort eigentlich noch auf der Suche nach Nana war, der Prostituierten, die den gebrochenen und abgewiesenen Hecker weit weg von zu Hause ohne die angenommene, spezifische Dienstleistung, aber mit viel Wärme während einer Nacht aus dem Rock Bottom hievte, und so zu einer Art Muse für "I Am Nothing But Emotion, No Human Being, No Son, Never Again Son" wurde, nahm die Geschichte ihren Lauf.

Wir haben einen gemeinsamen Freund, der in Tokio lebt. Und ich war halt auf der Nana-Suche und.. ich hab sie nicht gefunden, nein. Nach diesem Shibuya-Erlebnis, dem zweiten, wenn man so will, Dogenzaka, hab ich diesen deutschen Freund in Tokio getroffen, und dann hat der uns sozusagen verkuppelt.

Maximilian Hecker verliebte sich in eine japanische Fotografin und wechselte bald darauf seinen Wohnort.

Nach sechs Wochen war dann alles vorbei. Ob diesen Schritt bereue, fragen wir ihn.

Den Schritt? Nein. Ich bereue, dass ich nicht in der Lage war, länger zu bleiben. Ich wollte ursprünglich auch gar nicht weg aus Berlin, aber ich musste unbedingt bei dieser Frau sein. Und wenn man sagt, man zieht für jemanden um nach Tokio... dann muss man eher schon so ein Weltenbummler sein, oder eben jemand, der beruflich dorthin zieht. Und bei mir war wie bei Carrie, die nach Paris zieht... kennst du "Sex and the City"? Am Schluss der Serie zieht ja Carrie nach Paris – für einen Mann,

fängt unser Gegenüber verblüffenderweise an, den Plot der Serie kurz zusammenzufassen.

Und sie hatte während der ganzen Serie ihr "Carrie-Necklace", so ein Kettchen, und dann irgendwann in Paris verliert sie das Kettchen – das symbolisiert ihren Selbstverlust. Und ich hatte mich in Tokio auch irgendwie selbst verloren, und ich wusste: wenn ich in Berlin bin, würde ich wieder ich selber sein, und obwohl ich diese Frau immer noch liebe, hatte ich in dieser Extremsituation mit all dem Neuen und der neuen Kultur nicht in die Gewissheit, dass die Liebe ausreicht, dass ich mir vorstellen konnte, dort zwanzig oder auch nur zwei Jahre zu bleiben.

Sicher und besonnen wirkt er, als er das erzählt – wie eben jemand, der folgerichtige Konsequenzen zieht und dabei besonnen handelt, aber immer den Erfahrungsgewinn zu schätzen weiß. Doch was war mit Nana? Die Suche hat Maximilian Hecker nicht mehr fortgesetzt, und er gibt sich auch sonst eher desillusioniert, was den fleischgewordenen Inbegriff seines damaligen Erlösungs-Hoffnungsschimmers angeht.

Die hat mich abgerippt. Die hat die Touristen abgerippt damals. Die hatte auch irgendwie letztendlich kein Interesse mehr, mich wieder zu treffen, weil sie wahrscheinlich denkt, ich komme mit der Polizei.

Es wird wohl einzig der nach ihr benannte Song vom letzten sein, in dem die ehemalige Hingerissenheit zurückbleibt. Eine Kerbe mehr also im Kerbholz der trügerischen Hoffnungen.

In "The Whereabouts Of Love" rätselte der ewig rezeptlose Künstler nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrungen noch ob die eigene Zurückgezogenheit als Reaktion mental einen Segen oder eher einen Fluch darstellt, und hat seitdem auf diese Frage noch immer keine Antwort gefunden. Ganz sicher weiß er aber, dass es sich bei der Selbst-Isolation um einen hohen Preis handelt, den man für die vermeintliche emotionalen Integrität zahlen würde. Auch die Geeignetheit sei äußerst fraglich.

Ich habe mir dieses Leben so eingerichtet, dass ich meistens alleine zu Hause bin, und das ist für mich der Weg des geringsten Widerstandes. Es ist nicht so, dass ich sage: "Ich will 'ne Freundin" oder so, sondern ich denk immer eher "Cool! geil! Ich bin nicht verliebt!" Das ermöglicht mir, bei mir zu bleiben. Aber ich weiß natürlich, dass da irgendetwas auch nicht stimmt. Man kann nicht 90% der Zeit alleine zu Hause herumsitzen...

Ganz im Gegenteil sei es eher unmöglich, sich als Mensch vor emotionalen Trugschlüssen und den aus ihr resultierenden Enttäuschungen zu schützen. Vermutlich könne das niemand. Aber vielleicht, so Hecker nachdenklich, könne das ja Angela Merkel.

Im Dezember steht die Deutschland-Tour zum Album an, die Maximilian Hecker in Begleitung von Felix Räuber, dem Frontmann und Sänger der Dresdner Band Polarkreis 18 bestreiten wird. Dabei werde jedoch keiner der beiden Vokalisten den Support darstellen oder sich anderweitig unterordnen. Vielmehr müsse man sich gemeinsame Auftritte nach dem Prinzip Simon & Garfunkel unter der Zusammenarbeit vorstellen, betont Maximilian, für den die Solo-Auftritte, bei denen er allein auf der Bühne und damit voll im Fokus steht, schon immer die grausamsten waren. So viel Vertrautheit und Eintracht dies implizieren mag – an die Hecker-Eigenarten musste sich auch Felix Räuber erst einmal gewöhnen.

Ich hatte neulich den ersten Auftritt mit ihm, privat, und fing sofort an mit meinen Fäkalwitzen und dem Bubenhumor, und Felix war sehr verstört, weil er so ein Perfektionist ist, was Show angeht,

beschreibt Maximilian die Irritation. Doch es ging weiter: Man näherte sich an und kam ins Gespräch und gelangte zu Erkenntnissen.

Er meinte schließlich, das wäre ja alles gut und schön, dass ich das brauche, um mich frei zu fühlen, aber ich solle mir einmal vorstellen, ich sei in meiner Musik und würde es nicht brechen, dann könne es sogar sein, dass mein Publikum am Schluss weine. Und dann ist es ja egal, ob es uncool ist oder nicht, oder man sich als Pussy empfindet plötzlich, als Publikum, sondern dann ist eine große Emotion entstanden in dem Raum, und vielleicht habe ich das tatsächlich häufig vermieden durch diese Brechung. In gewisser Weise war ich sehr egoistisch, indem mir die Show egal war und ich ganz allein meinen Frieden haben wollte während das Publikum sehen konnte, wo es blieb,

gesteht er ein.

Vielleicht kann man das wirklich einfach alles zusammenbringen, indem man sagt: ich fühl mich gut – und ihr auch irgendwie, und es ist eine große Show für jeden. Ich bin auf jeden Fall sehr froh, dass ich Felix gefunden habe und kann mir vorstellen, dass wir gewisse Versuche unternehmen, die idealerweise dazu führen, dass ich nicht einen auf Tourette-Syndrom mache.

Es bleibt also abzuwarten, wie sich die der Auftritt als Duo auf die Konzertatmosphäre auswirken wird. Garantieren kann Maximilian Hecker allerdings für nichts, wie er vorsorglich anmerkt:

Ich kann aber natürlich nicht abschätzen, wie das wird, und ob ich nicht doch mal irgendwie denke: "Jetzt will ich aber 'nen versauten Witz machen" oder so.

Maximilian Heckers Antworten lässt sich ohne Weiteres anmerken, dass einem in ihm ein Gesprächspartner gegenüber sitzt, der sich Gedanken macht. Der sich über sich selbst und das Leben bisweilen vermutlich sogar zu intensiv, zu verwinkelt den Kopf zerbricht. Dieser Eindruck lässt sich seit kurzem schriftlich belegen: Darüber, welche persönlichen Entwicklungen der Musiker während seiner Karriere durchschritten hat, gibt sein neu erschienenes Buch "The Rise and Fall of Maximilian Hecker" Aufschluss, bei dem es sich um eine in eine Art autobiographischen Text umgemünzte Sammlung von Tagebucheinträgen und anderen schriftlichen Privataufzeichnungen handelt, die sich seit 1999 bei Maximilian Hecker sammelten. Eine Gebrauchsanweisung zum Buch kann er trotz des hohen persönlichen Gehalts nicht geben, stellt es für ihn doch eher einen literarischen Versuch dar.

Das ist erstmal nur ein Experiment, das Buch herauszubringen. Ich habe jahrelang Texte geschrieben oder Aufzeichnungen gemacht, und finde es auch ganz schön, dass ein Entwicklungsroman ohne Entwicklung dabei herausgekommen ist, man sich also dann selber denken muss, wie Hecker da jetzt wieder heraus kommt.

Er lässt es sich nicht nehmen, konkreter zu werden, und ulkt:

Aber ich weiß beispielsweise nicht, wie das Buch zu lesen wäre, wenn ich dann Steffi Graf finde. Also, als Andre Agassi, verstehst du. Irgendwann dann so: "Damals, haha, jaaa, mit der Nana – hach, Steffi, ne...jaa, damals kannt' ich dich halt noch nicht...''

Maximilian Heckers eigene Idee, so etwas wie ein biographisches Buch zu verfassen, fiel zufälligerweise zeitlich relativ nah mit der Initiative eines interessierten Agenten zusammen, wodurch er dieses Vorhaben spontan und unkompliziert realisieren konnte.

Kennst du David Schumann? Den Autor von "The Tokyo Diaries"? Der war kurzzeitig Catwalk-Model in Tokio als Deutscher, und er hat ein Buch darüber geschrieben. Ich wollte daraufhin "The Asia Diaries" schreiben. Dann hat sich ein Literaturagent bei mir gemeldet, der ein Interview gelesen hatte und gemeint, ich solle mal ein Buch schreiben – da hatte ich im Grunde schon eins fertig – und so kam das.

Nun heißt aber das Werk eben nicht "The Asia Diaries", sondern titelt mit dem "Rise and Fall", dem Aufstieg und Fall, des Maximilian Hecker. Wo genau er sich auf der Rise-and-Fall-Skala gerade so ungefähr befindet, weiß er nicht zu beziffern, nein, nicht einmal, ob die Tendenz fallend oder steigend ist.

Och...

subsumiert er stattdessen flapsig den Status Quo,

immer schön am Straucheln. Noch nicht so richtig Land in Sicht.