Ich flüchte in mein Venedig der Verstoßenen
backIn meinen letzten 24 Stunden bin ich in einem friedlichen Zustand, der Tod stellt keine Bedrohung dar. Im Sinne einer Rückschau und mit einer Art Silvestergefühl suche ich bestimmte Orte auf. Ich mache wie so oft eine Reise an den Berliner Stadtrand. Ich entfliehe den Unbilden des Soziallebens, dem ständigen Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, flüchte mich in die beschützende Einsamkeit eines Industriegebiets – meinem Venedig der Verstoßenen. Wer sich noch nie samstagnachts anstatt in einer Disco in einem Industriegebiet aufgehalten hat, der weiß nicht, wie romantisch es sein kann, im Lichtkegel eines Vollmonds zwischen Fabrikgebäuden zu stehen und dem Surren der Generatoren zu lauschen. Der Typus Aussteiger oder einsamer Wolf entspricht meinem Wesen. Meine Mini-Ausstiege begannen 2012. Ich hatte, gequält von einer erbärmlichen Liebesgeschichte, einen Flug nach Kopenhagen gebucht, bin dort dann allerdings die ganze Zeit in einem Funktionshotel am Flughafen Kastrup geblieben. Dieses Gefühl, am Arsch der Welt zu sein, ohne dass jemand anderes von meiner Flucht weiß, das sind Momente inneren Friedens. Diese Suche des Heils in der Flucht thematisiere ich auch in meinen Liedern häufig. Ich fahre also ins Hennigsdorfer Industriegebiet und gehe später von dort aus über die Marwitzer Straße nach Velten. Dabei denke ich darüber nach, wie es so weit kommen konnte, dass das eremitische Herumirren am Stadtrand zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen geworden ist. In Velten angekommen, gehe ich traditionellerweise ins Casa Italiana und esse Penne Chef. Anschließend setze ich meine Route fort. Ich blicke zurück auf die großen Liebesgeschichten, und wie ich sie vergeigt habe, die Eltern, den Bruder, die Kindheit. Ich bin in einem Schwebezustand, der den Tod in gewisser Weise vorwegnimmt. Dieses Sich-Auflösen in der Isolation ist ein romantisches Ideal für mich. Später fahre ich ins Gewerbegebiet Dahlwitz-Hoppegarten. Dort gehe ich wie immer in ein Möbelhaus und lese in den Dekobüchern der Dekoeinrichtungen. Fast überall stehen »Der Pfad« von Dennis Merzel und eine Robbie-Williams-Biografie. An meinem letzten Tag lese ich wie auch sonst auf meinen Fluchten in diesen Büchern. Im Ohr habe ich Paul Buchanan, den Sänger der schottischen Band The Blue Nile. Und natürlich »Die drei Fragezeichen«. Wenn es Zeit wird, setze ich mich unter einen Baum und warte. Vielleicht ist der Tod weiß gekleidet und freundlich – und eben kein Schwarz tragender Sensenmann. Es gab mal einen Baum zwischen Hennigsdorf und Velten, den habe ich oft fotografiert. Ich wollte eigentlich meinen Roman darunter vergraben, sozusagen als Symbol des Schreiberfolgs trotz massiver Versagensängste. Doch vor kurzem nun wurde der Baum gefällt. Möglicherweise werfe ich meine passiv-aggressive Weltverweigerungsreise auch kurzerhand über den Haufen und fahre zum Berghain: Der einsame Wolf will vor der Vergängnis vielleicht doch noch einmal blühen. Ich stelle mich in die Schlange und warte – und genau in dem Moment, als ich das erste Mal in meinem Leben vom Berghain-Türsteher reingelassen werde, sterbe ich. Eine Touristin fängt mich in ihren Armen auf.