Interview mit Maximilian Hecker



Ich möchte gleich direkt mit dem neuen Album einsteigen... Es sind ja gravierende Änderungen eingetreten in der Zwischenzeit. Bevor es näher um die Neuerungen gehen soll, einsteigend gefragt: rein vom Gefühl her betrachtet - wie fühlt sich das neue Album für Dich an?

Zunächst ist das Besondere, daß ich es mir anhören kann und dies auch sehr gerne tue – was ich von früheren Aufnahmen nur teilweise behaupten kann. Das Album ist, im Gegensatz zu den Vorgängern, kein Versuch, eine Leistung zu vollbringen, sich etwas zu beweisen, sich in den Wettbewerb mit anderen Musikern zu begeben. Es ist in jedem seiner Schaffensprozesse gekennzeichnet durch Unperfektheit, Fragmenthaftes, Skizzenhaftes – angefangen bei der Mikrofonierung, dem Overdubbing, dem Mischen, selbst dem Coverartwork; denn der Fotograf, Stefan Sappert, hat nur ein einziges, wenn auch geniales, Bild aufgenommen, das einige „Fehler“ aufweist. Dieser bewußte Verzicht auf Perfektion hatte für mich als Perfektionisten eine unglaublich befreiende, beschwingende Wirkung; dieser Verzicht hat Energie und Kräfte freigesetzt, von denen ich zuvor nichts gewußt hatte. Das Album ist keine klassische Songsammlung, es ist ein Gefühlsdokument. Es ist unschuldig, naiv, der Ausdruck meiner Seele, die die Seele eines Sechsjährigen ist. Schließlich ist es ein sehr privates Dokument. Der Hörer wird eingeladen, mir beim Musizieren sozusagen „durch das Schlüsselloch“ zuzusehen; er erhascht einen Blick auf einen privaten, eigentlich nicht für die Öffentlichkeit vorgesehenen, heiligen, unverfälschten Raum. Es ist anzunehmen, daß dieser Blick einige Hörer mit Scham erfüllt. Die Aufnahmen sind genau zu dem Zeitpunkt ihrer Entstehung aufgenommen worden. Das Gefühl, von dem ich im jeweiligen Song berichte, ist exakt das Gefühl des Aufnahmemomentes; die Geschichten, von denen die Songs handeln, sind exakt die Geschichten, die ich zur Zeit der Aufnahmen erlebt habe. „Glaslights“ zum Beispiel handelt von der „Blue-Soldier-Night“-Frau und wurde während der Aufnahme, die einen Tag nach der gemeinsamen Nacht gemacht worden ist, von mir improvisiert. Ich bezeichne das Album als „Geschenk an mich selbst“, da es den Klang meiner Seele wiedergibt, und dieser Klang ist so real, pulsierend, voller Fehler und Rauheit wie eben meine Seele.

Würdest Du generell eine Dichotomie sehen hinsichtlich des „alten“ und des „neuen“ Maximilian Hecker? Wie würdest Du diese vermeintliche Dichotomie sehen? Worin unterscheiden sich die beiden Heckers bzw. Hecker-„Epochen“?

So dramatisch würde ich es nicht ausdrücken wollen. Der „neue Hecker“ ist noch der gleiche Mensch, aber er hat den Mut zur Befreiung gehabt. Rein wirtschaftlich betrachtet mag es nämlich selbstzerstörerisch sein, sich von allen klassischen, häufig an Äußerlichkeiten orientierten, Showbusinesserwartungen (amtliche Produktion, adrettes Aussehen des Künstlers, entertainende, glattlaufende Konzerte, Übereinstimmung von Form und Inhalt) zu befreien bzw. sie völlig zu mißachten oder sogar antizyklisch zu agieren. Doch die eigentliche Selbstzerstörung wäre gewesen, weiterhin meine eigenen Schwächen und Ängste zu verleugnen und einen funktionierenden, romantischen Barden und Mädchenschwarm zu spielen. Das Aussprechen der Wahrheit, das Zeigen meiner Verletzlichkeit, dieses hat für mich etwas unglaublich Befreiendes. Denn wenn ich mich – auf der aktuellen Platte, bei Konzerten, in Interviews oder sozialen Situationen (z.B. Thema Intimbeziehung) – offen, verletzlich und nackt zeige, dann fällt der ganze narzißtische Ballast von mir ab, dann spiele ich mit offenen Karten und hoffe zu bewirken, daß mein Publikum bzw. mein Gegenüber genauso mit offenen Karten spielt; daß keine Gefahr im zukünftigen Umgang mehr lauert, daß keine Machtspielchen mehr gespielt werden können.

Zunächst einmal ein Blick auf den Titel des neuen Albums. „I Am Nothing But Emotion, No Human Being, No Son, Never Again Son” – was bedeutet der Titel? Was steckt dahinter?

Der Titel stammt aus dem Bewußtseinsstromgedicht “Blue Soldier Night”. In jener Nacht hatte ich das Gefühl, mich außerhalb der – durch die Elternwelt repräsentierten – bürgerlichen Gesellschaft zu stellen. Die, dem Gedicht zugrunde liegenden Faktoren, also das “mondäne” Berliner Nachtleben, Alkoholrausch, Schlafmangel und die intime Begegnung mit einer um ein paar Jahre älteren und sehr unbürgerlich lebenden, Künstlerin – dies alles bedeutete für mich eine Art Rebellion gegen bürgerliche, impulshemmende Strukturen und führte in der blauen Soldatennacht zu einer Auflösung meiner Ich-Struktur. Ich wurde überflutet mit intensiven Gefühlen – was für mich ein besonderes Erlebnis ist, fällt mir Fühlen im Alltag doch sehr schwer –, Gefühlen der Glückseligkeit und Gefühlen der Todesangst. Befreit vom Über-Ich konnte ich in meine Seele blicken. Und dort ist Glück und Schmerz vereint; dort sind Ambivalenzen aufgehoben. Wahrnehmung von Ambivalenz ist nur eine Eigenart rationalen Denkens. Und in dieser Gefühlsüberflutung hatte ich den Eindruck, keinen Körper mehr zu haben (“no human being”), sondern “nur noch Gefühl”zu sein. Ebenso, daß ich durch die Vereinigung mit dieser Frau einen Initiationsritus vollbracht hatte, der mich von meinem Status als “Kind meiner Eltern” befreite, bzw. daß ich durch die Vereinigung mit einer, der Mutter entgegengesetzten, Persönlichkeit eine Art “Mutterexorzißmus” vollzogen hatte.

In der Album-Info stand, dass Dir deiner Empfindung folgend zu selten gelungen sei, „authentische Gefühle“ rüberzubringen. Wie würdest Du diese „authentischen Gefühle“ beschreiben?

Eine Aufführung meiner Musik ohne innere oder äußere Ablenkung (Versagensangst, Narzißmus, Perfektionismus, Erwartungsdruck). Demnach der Klang meiner Musik in einem Zustand des Einsseins mit mir selbst.

Auch generell ist in der Album-Info ist die Rede davon, dass Du Dich zu Beginn der Arbeiten auf einem absoluten Nullpunkt gefunden hast. Wie hat sich dieser Nullpunkt angefühlt?

Ich verlor während der Aufnahmen zu ”One Day" meine Stimme soweit, daß ich nicht mehr das Gefühl hatte, irgendetwas damit ausdrücken zu können. Ich hatte große Erwartungen an die Asientour 2008, musikalische, spirituelle und bezüglich der Begegnung mit einer chinesischen Sängerin, die ich im Vorfeld der Tournee kennengelernt hatte. Ich wurde in allen Bereichen herb enttäuscht: keine Vibes auf der Bühne, keine Vibes im Herzen, no Score. Dazu kam, daß ich im Rahmen der Finanzkrise Geld verloren hatte; also war ich auch mit Geldsorgen konfrontiert. Es war also alles scheiße, aber, als ich dann in meiner Verzweiflung, wie zehn Jahre zuvor schon, auf die Straße ging, um zu singen, ergab plötzlich alles wieder einen Sinn. Die Stimme war wieder da, die Vibes, und ulkigerweise gesellten sich auch ein paar Prostituierte von der Oranienburger Strasse zu mir, die dann unter anderem den Flohwalzer auf meinem Yamaha-Einsteiger-Keyboard probierten. Ich bemerkte, daß der Verlust des „äußeren Glamour“ zum Gewinn eines „inneren Glamour“ geführt hatte. Äußerlich „verweste“ ich, aber innerlich blühte ich auf. Die Abkehr vom Narzißmus und die bewußte „Enttäuschung“ der klassischen Erwartungshaltungen des Showbusiness, die Abkehr von allem, das von mir selbst ablenkte, den Blick auf mich selbst verstellte, ermöglichte mir die Wahrnehmung meiner Selbst und schließlich die Selbstfindung. Mit diese Erkenntnis beschloß ich, die neuen Songs zuhause aufzunehmen, in einem völlig unprofessionellen – und somit nichts fordernden – Ambiente. Ich ließ bewußt die Fenster geöffnet, stellte häufig nur ein einziges Raummikrofon auf und sang durch meinen Gitarrenverstärker – so, wie ich es auch beim Üben und Komponieren tue. Ich wollte nichts an meinem musikalischen Alltags-Setup verändern, das die Authentizität gefährden könnte, nichts auch nur annähernd studioähnlich gestalten.

Was ebenfalls immer wieder erwähnt wird: Die Begegnung mit Nana – der ja auch ein Song auf dem Album gewidmet ist. Wie lernt man eine japanische Prostituierte kennen, in dem Weg, wie bei Dir geschehen? Die Tatsache, dass sie Dir aus dem Tiefpunkt geholfen hat, klingt schließlich nicht nach dem Besuch eines Etablissements. Welche Beziehung hattest oder hast Du zu Nana?

Ich kehrte am allerletzten Abend der Asientour (genauer gesagt war ich im Anschluß an die eigentliche Tournee mit meinem Ostasienmanager in Tokyo, um eine Plattenfirma für mich zu finden) zu Fuß zum Hotel zurück. Ich fühlte mich Milliarden Meilen weit weg von zuhause und von mir selbst, ich war angetrunken, frustriert, unbefriedigt, sah das Ende meiner Karriere nahen. Ich schien mich in der Dunkelheit Tokyos aufzulösen, unterzugehen, mein Ich schien zu zerfallen, ich wurde aufgesogen von meinem eigenen, basalen Unterbewußtsein. Zufällig gelangte ich ins Rotlichtviertel von Shibuya. Nana kam einfach auf mich zu und sprach mich an. Sie sah wunderschön aus, war teuer gekleidet und entsprach deshalb so gar nicht meinem, durch die Hamburger Reeperbahn und die Berliner Oranienburger Strasse geprägten, Bild einer Prostituierten. Da ich vorher noch nie Kontakt zu einer Prostituierten gehabt hatte, verhielt ich mich so wie auf einem Date: ich fragte, bevor ich sie umarmte und küßte, ob ich dieses auch dürfe, und ich spielte ihr über meinen iPod meine Musik vor. Ich merkte, daß es mir nicht um Sex ,sondern um Nähe und Halt ging. Ich klammerte mich regelrecht an Nana.

Direkter zu den Songs: wie würdest Du generell das Entstehen eines Songs auf dem neuen Album charakterisieren?

Ein Kunstwerk entsteht in zwei Phasen: der „kindlichen Phase“, in der „aus dem Bauch heraus“ eine Idee auftaucht. Und der „erwachsenen Phase“, in der die chaotische, impulsive Idee in eine Form gebracht wird. Im Gegensatz zu den Vorgängeralben ist die erwachsene Phase ist beim neuen Album bewußterweise weggelassen worden. Die neuen Aufnahmen sind insofern Kinderlieder.

Ich habe nun mal einige Beispiele aus dem Album gewählt, über die ich gerne mit Dir reden würde. Schon der Opener „Blue Soldier Night“ fällt auf, wegen der Samples zu Beginn. Worum geht es in den Samples? Gerade der Begriff des „Kafkaesque dungeon“ bleibt in meinen Augen hängen.

Ich habe nach der Begegnung mit jener schon beschriebenen Frau, von der das Gedicht handelt, Tagebuch geschrieben, und ”Blue Soldier Night“ floss in gewisser Weise aus mir heraus; zunächst auf deutsch, dann habe ich die Aufzeichnungen ins Englische übersetzt und per sms an mein Festnetz gesendet. Die vorlesende Computerstimme habe ich auf meinem Anrufbeantworter gespeichert und dann aufgenommen. Später habe ich diese Aufnahmen an die betreffende Frau geschickt, in der Hoffnung, es gäbe eine Zukunft für uns beide. Wovon das Gedicht handelt, habe ich ja in einer vorangegangenen Frage schon beantwortet. “Kafkaesque dungeon“ bezieht sich auf meine subjektive Wahrnehmung der Wohnung der Frau. Sie kam mir in der bedröhnten Nacht unglaublich groß, unüberschaubar und weitverzweigt vor. In ihrer Ungewißheit, Dunkelheit und Verschachtelung wurde sie zum Äquivalent meines Unterbewußten.

Ganz im Gegenteil zu dem angesprochenen Nullpunkt vor dem Album steht der Songtitel „The Greatest Love Of All“. Worum geht es in diesem Stück?

Um nichts und alles. Der Text ist während der Aufnahme improvisiert. Ich habe ihn deshalb nicht "geschrieben" bzw. verfaßt und verdichtet. Es klingt aber an, daß ich nach wie vor zu glauben/hoffen scheine, daß es für mich jemanden “da draußen” gäbe, und daß ich wohl letztendlich doch "dorthin gehöre, wo die Sonne scheint".

Ebenfalls schon vom Titel her interessant – und auch im Vergleich zum Song der vorangegangenen Frage – ist „Messed-up Girl“. Wer ist dieses Mädchen? Wovon handelt der Song?

”Messed-up Girl” bildet eine Ausnahme, da es schon auf dem 2006er Album ”I’ll Be A Virgin, I’ll Be A Mountain” erschienen ist. Dieser Text ist also “verdichtet”. Ich war kurze Zeit der heimliche Liebhaber einer Frau und malte mir eines Tages aus, wie es wohl dem betrogenen Freund gehen müsse. Das Lied ist aus seiner Sicht geschrieben. Er kann nicht ihre Sonne sein, so wie vielleicht ein kurzzeitig aufregend wirkender Liebhaber, aber dafür zumindest ihr Mond, der mit geliehenem Licht ihre Nacht erhellt. Eigentlich bin ich auch gleichzeitig der betrogene Mann, denn auch ich habe nicht den Eindruck, eine Frau beeindrucken zu können durch besonders schillernde Merkmale, dafür aber vielleicht durch Zuverlässigkeit und Treue.

Direkt darauf folgt „No One’s Child“. Fühlst Du Dich wie niemandes Kind?

Keine Ahnung. Auch dieser Text ist improvisiert.

Das Album wieder als Gesamtes gesehen: welche Ziele hast Du? Gibt es etwas, das Du damit erreichen willst? Oder ist der Release an sich schon ein erreichtes Ziel? Es klingt schließlich ein bisschen nach einem Befreiungsschlag, dieses Album veröffentlicht zu haben...

Das ist das Schöne daran: ich will gar nichts damit erreichen. Ich muß das Album aber veröffentlichen, für mich, für meine Vita, auch gerade physisch, damit es neben den anderen gleichwertig im Regal steht und den unorthodoxen Aufnahmen den Stellenwert gibt, den sie verdienen.

Zum Song „Nana“ gibt es außerdem ein Video. Welche Idee steht hinter dem Clip?

Er zeigt mich so, wie ich die Aufnahmen zum Album gemacht habe. In meinem Zimmer – ungeschönt, mit knatschendem Klavierhocker.

Das Album erscheint auf deinem eigenen Label „Blue Soldier Records“. Erscheinen dort nur Deine Veröffentlichungen, oder gibt es auch andere Künstler, die veröffentlichen?

Bisher nicht. Ich spiele aber mit dem Gedanken meine tourettessyndromartigen Elektro-Songs dort zu veröffentlichen.

Welche Vor- und Nachteile bringt das eigene Label für Dich mit sich?

Ich muß alles vorfinanzieren, aber das mache ich gerne, denn so kann ich alle Entscheidungen selber treffen und muß niemanden vorher fragen.

Ich möchte nun noch ein letztes Mal die Presse-Info zum Album zitieren... Dort wirst Du unter anderem als einer der „kontroversesten deutschen Künstler“ bezeichnet. Siehst Du das auch so? Wie stehst Du zu dieser Einordnung? Was macht Dich in deinen Augen kontrovers?

Das steht aber nicht im Presse-Info. Das weiß ich zufällig genau, da ich es selbst geschrieben habe. Keine Ahnung, warum „kontrovers“. Ich mache nichts anderes als viele andere auch.

Zum Abschluss nun noch die obligatorische Frage nach der Zukunft. Nach dem neuen Album: wie geht es mit Maximilian Hecker weiter? Wie sehen die nahen und fernen Pläne mit und nach diesem Album aus? Ist auch eine Tour geplant?

Ich spiele auf der Albumtour 35 Konzerte (Österreich, Deutschland, Schweiz, Italien, China und Belgien). Ansonsten denke ich so wenig wie möglich an die Zukunft. Nach der Tour ist dann erstmal WM und dann schaumer mal...