Der Popstar-Legastheniker / Auf der Bühne umjubelt, zu Hause alleine


"Hin und wieder sind die Leute stehen geblieben", sagt Maximilian Hecker mit starrem Blick auf die breite Stufe unter einem Boutiquenfenster in der Rosenthaler Straße. Als er hier Ende der Neunziger saß, verbarg sich hinter dem Fenster noch das "Café Rosental", und Hecker war Straßenmusiker. Heute hat der hagere Mann in Levi's-Jeans und Longsleeves gerade sein siebtes Studioalbum "Mirage of Bliss" veröffentlicht und zeitgleich sein erstes Buch herausgebracht. "The Rise and Fall of Maximilian Hecker" ist eine Sammlung von Erlebnisberichten, in denen der 35-Jährige sowohl von seinen ersten Gehversuchen in der Endneunziger-Berlin-Mitte-Szene als auch von seinen jüngsten Tourerfahrungen aus Japan, Korea, China und Hongkong berichtet.

Ist Hecker hierzulande eher Musikkennern denn der breiten Masse bekannt, so ist er in Ostasien ein Star. Elfmal war er dort bereits auf Tour, das spricht eigentlich für sich, er ist auf den Titelseiten von vielen Publikationen zu sehen, auf YouTube hat er eine sehr treue Anhängerschaft. "Das klingt jetzt vielleicht arrogant oder irre, aber das alles lässt mich relativ kalt", wird Hecker später zu seinem Erfolg in Ostasien sagen und aus seiner leicht steifen Körperhaltung heraus an seinem Gegenüber vorbeiblicken.

"Hin und wieder sind die Leute stehen geblieben", setzt Hecker vor seinem ehemaligen Musizier-Sitzplatz noch mal an, nachdem ihn vorübereilende Passanten aus dem Konzept gebracht hatten. "Dabei ist festes Publikum eine Sache, die ich unbedingt vermeiden wollte. Denn durch Zuhörende entsteht Druck. Sie erwarten, dass ich meine Lieder zu Ende spiele, auch wenn ich mich gar nicht danach fühle." Hecker dreht seinen Kopf zu der ihn begleitenden Reporterin: "Das ist heute, als Berufsmusiker, natürlich eines meiner Hauptprobleme."

Bereits in der dritten Klasse gründete der in Baden-Württemberg geborene, aber in Bünde bei Bielefeld aufgewachsene Sohn einer Lehrerin und eines Ingenieurs seine erste Band. Bei den hoffnungsfroh benannten "New Beatles" spielte Hecker im Alter von neun Jahren Schlagzeug und verkaufte Demokassetten zusammen mit Gummibärchen. Mitte der Neunziger begann er, Gitarre zu spielen und zu singen. Nach Berlin kam er 1998, um am damaligen Virchow-Klinikum eine Ausbildung als Krankenpfleger anzugehen. Seine Eltern wollten es so. "Damit der Junge eine sichere Basis hat", sagt Hecker. Doch "Klein-Maxi aus Bünde", wie er sich in seinem Buch gerne nennt, zog es mehr auf Berlins Straßen denn ins Klinikum.

"Der Hackesche Markt war in den Neunzigern ein Laufsteg. Hier hat sich die Szene getummelt", erzählt Hecker, während vor einer amerikanischen Kaffeehauskette eine Mutter mit zwei Kindern an ihm vorbeigeht. Er habe hier Liam Gallagher sein wollen, sagt er, habe mit Fensterglasbrille Oasis-Songs gecovert und nebenbei seinen Platz in der Szene gesucht.

Besagte Szene fand Hecker dort, wo heute Dim Sum und Miso-Suppe gegessen werden. Im Biergarten eines asiatischen Restaurants, direkt neben seiner ehemaligen Stammstufe, steigt der Sänger eine Treppe zu einer Feuertür hinab. Die hier Ende der Neunziger ansässige "Galerie Berlintokyo", in der ihr Gründer Rafael Horzon Alltagsgegenstände als zeitgenössische japanische Kunstwerke verkaufte, wurde später zu einer Bar, die Hecker, wie er selbst sagt, nur "in den letzten Zuckungen" miterlebt habe: "Ich habe hier aber unter anderem den Schauspieler Christoph Bach, den Maler Jim Avignon und die Musikerin Almut Klotz von den Lassie Singers kennengelernt."

Heute ist die Tür zur Galerie verschlossen, damals aber eröffneten ihm die hier geknüpften Kontakte neue Möglichkeiten: Die Demo-CDs des Straßenmusikers gelangten in die richtigen Hände. Unweit von seiner Stammstufe konnte er beim Independent-Label Kitty-Yo in der Rosenthaler Straße 3 seinen ersten Plattenvertrag unterzeichnen. Kurz darauf brach Hecker seine Krankenpflegerausbildung ab. Sein Debütalbum "Infinite Love Songs" wurde von der "New York Times" hoch gelobt. Das Goethe-Institut schickte ihn auf Welttournee. Aber einzig in Ostasien schmissen sich die Fans zu Hunderten "hyperaktiv, hysterisch quietschend und süß errötend" auf den Musiker mit der Britpopfrisur.

So liest man es in Heckers Buch. Im Interview aber, da hadert Hecker gerne mit seiner Bedeutung: "Ich bin kein Popstar in Asien", sagt er und zuckt zusammen, als er an der Straßenecke Rosenthaler und Linienstraße den ehemaligen Sitz seines ersten Labels zeigen will. Ein Krankenwagen ist im tönenden Einsatz an ihm vorbeirauscht. Der Sänger steht starr. 2006 meldete Kitty-Yo Insolvenz an, hinter den mit Postern tapezierten Fenstern seiner ehemaligen Plattenfirma sitzt nun eine Booking-Agentur. Vor zwei Jahren gründete Hecker sein eigenes Label "Blue Soldier Records". Er vertreibt ausschließlich sich selbst. "Ein Popstar, wer ist das schon? Michael Jackson?", fragt Hecker, nachdem er sich von dem Martinshorn erholt hat. "Ich finde in Ostasien auf einem mittleren Niveau statt. Aber im Gegensatz zu Deutschland werde ich dort halt idolisiert." Er zuckt mit den Schultern. "Pro Konzert wollen da um die 300 Fans ein Autogramm." Für Hecker kein Anzeichen von Popstartum, eher ein existenzielles Problem.

"Ich denke mir in diesen Momenten: Warum wollen die denn jetzt ein Foto mit mir? Was bringt denen das?" Sein Sprachfluss gewinnt an Strömungsgeschwindigkeit: "Und dann fühle ich mich schuldig. Das wiederum versuche ich auszugleichen, indem ich sehr höflich bin, während ich Autogramme gebe. Ein Begriff, den ich in meinem Buch dafür gefunden habe, ist Popstar-Legastheniker." Mit einer angekoppelten Schwäche kann Hecker das P-Wort für sich akzeptieren. Den Wink, dass er sein Berufsmusikerdasein doch einfach beenden könne, wenn er unter dem öffentlichen Interesse und den damit verbundenen Erwartungen so leide, den habe man ihm schon häufiger gegeben. "Viele sagen, dass die Tatsache, dass ich trotz allem weitermache, zeige, dass ich eine eitle Sau bin." Der blasse Sänger blinzelt im Sonnenlicht der Torstraße. Ja, sagt er, natürlich sei es eine gewisse Form von Eitelkeit, die ihn raustreibe. Er glaube ganz einfach, dass seine Musik mit der "da draußen" mithalten könne, und deswegen wolle er auch erfahren, was passiert, wenn er sie veröffentlicht.

In Ostasien passiert häufig Folgendes: Das Publikum singt seine Lieder mit. Frenetisch und zu Hunderten. "Immer wenn mir das widerfährt, denke ich: Nee, seid mal still, ich hör mich nicht, ich kann den Ton so nicht halten." Hecker verzieht das Gesicht, krümmt sich ein, hält sich zur Verdeutlichung die Ohren zu. Ob damals auf seiner Stufe in der Rosenthaler Straße oder heute: Der Musiker Hecker macht seine Musik vorrangig für sich selbst.

"Ich werde niemals eine Beziehung mit einer Frau haben, weil ich mit meiner Musik verheiratet bin. Und das ist auch gut so!", interpretiert Hecker auf Seite neun die geflügelten Worte Klaus Wowereits neu. Heckers Ausspruch entstammt der Abschrift einer E-Mail, die er vor drei Jahren an seinen Freund Billy schrieb. Heute sagt er, die Mail sei melodramatisch. Warum er sie an den Anfang seines Buches gesetzt habe? Er biegt von der Tor- in die Bergstraße Richtung Heinrich-Zille-Park ab. Seine Wohnung ist in unmittelbarer Nähe. Jeden zweiten Tag beginnt er hier zwischen Wohnhäusern, Bäumen und Spaziergängern seine Joggingstrecke. "Der Inhalt der E-Mail ist insofern aussagekräftig, als dass ich all meine Liebe und Zuneigung, die ich in meinem wahren Leben nicht ...", wieder unterbricht Hecker. Dieses Mal ist kein Martinshorn in Hörweite, dafür aber ein Passant. Der Sänger geht ein paar Schritte auf der Stelle. "Ich will nicht, dass andere zuhören", zischt er. Kaum ist der Passant vorüber, gesteht der 35-Jährige, noch nie eine Beziehung gehabt zu haben: "Wenigstens keine, bei der ein mindestens zwei- bis dreimonatiger Alltag miteinander verbracht wurde."

Hecker glaubt, Frauen würden sich nach Männern mit einem soliden Selbstbewusstsein sehnen. Letzteres fehle dem Sänger aus Bünde. Manchmal halte er sich für besser, als er sei, und manchmal für schlechter. Letzteres trifft wohl aktuell zu. Denn wenige Schritte weiter gibt er zu Protokoll: "Ich kann nicht singen."

Er habe nur ein sehr kleines Tonspektrum und auch ein Problem mit seiner Bruststimme, nur deswegen singe er überhaupt Falsett. "Ich singe auch überhaupt nicht gerne", bekennt er in der Gartenstraße. Die nächsten Meter beschreiten Sänger und Reporterin schweigend.

Ein Supermarkt. Graffiti. Bäume. Dann korrigiert Hecker sich: "Also nein, wenn ich selbstbewusst bin, keinen Erwartungsdruck verspüre und bei Stimme bin, dann macht Singen doch Spaß." Das habe er schließlich auch in seinem Buch klarstellen wollen, dass es sie gibt, die Momente des Genusses in seinem Leben. "Deswegen mache ich das Ganze ja", sagt Hecker – und es klingt, als würde er sich noch mal selbst versichern wollen. Um Geld gehe es dem Sänger schließlich nicht. Dort, wo er am erfolgreichsten sei, in China, sei die illegale Download-Kultur ohnehin so weit fortgeschritten, dass selbst seine dortige Plattenfirma zu der raubkopierten Digitalmusik verlinke. "Die hoffen, dass sich die Musik so schneller verbreitet und sie dann mehr Konzerttickets verkaufen." Das Gespräch ist wieder in Gang. Ein Großteil seines asiatischen Konzertpublikums sei jung und müsse lange sparen, um zu seinen Shows zu kommen. Selten nur komme ein Fan tatsächlich zweimal zum Konzert.

Warum er in Ostasien umjubelt und hierzulande vorwiegend von Kennern geschätzt werde, weiß Hecker nicht zu beantworten. "In Ostasien erlebt man Musik anscheinend eher durch den Bauch, nicht über den Kopf", vermutet er aber. Für Deutschland dagegen seien seine Texte schlicht zu romantisch.

Sein Buch beschreibt Hecker als Popliteratur. Er habe "The Tokyo Diaries" von David Schumann und "52 Wochenenden. Texte zum Durchmachen" von Jens Friebe gelesen und befunden, dass seine Aufzeichnungen von unterwegs im Grunde ähnlich seien. Hecker schrieb das Buch, ohne davon ausgehen zu können, dass es veröffentlicht würde. Ganz ohne Erwartungsdruck, so, wie ihm das also gefallen könnte. In "The Rise and Fall of Maximilian Hecker" verliebt sich der Protagonist in Laura Chan. Ihr Name ist ein Pseudonym. Aber im Buch wie im wahren Leben handele es sich bei Chan um eine populäre taiwanische Sängerin. In Taipeh lässt sie Heckers Werben allerdings im Sande verlaufen. Das lyrische Ich des Sängers landet am Ende seiner Aufzeichnungen in Shibuya, wo er eine Prostituierte für drei magische Worte und ein paar Küsse auf den Mund bezahlt.

"Meine Mutter soll das Buch lesen können, deswegen habe ich viel Zweifelhaftes weggelassen", sagt Hecker, dann zwinkert er, und wie immer, wenn er plötzlich jemandes Stimme imitiert oder sich unverhofft selbst auf die Schippe nimmt, bekommt er plötzlich Präsenz. Nach jedem kurzen Ausbruch verhärtet sich seine Haltung aber wieder. Der Sänger zieht sich zurück in seinen kontrollierten, von einer Tragetasche behängten Hecker-Panzer, der ständig versucht zu antizipieren, was andere von ihm denken könnten. Und ständig darauf bedacht ist, die Interviewsituation des Spaziergangs vor Passanten zu verbergen.

"Ich möchte einfach nicht, dass andere mich für einen Angeber halten. Wenn ich Elvis wäre, wäre das etwas anderes, aber sie sehen ja, dass ich einer von ihnen bin. Und dann werden sie womöglich zu dem Schluss kommen, dass ich mich für was Besseres halte." Er hält kurz inne. "Es muss natürlich nicht sein, dass die das denken. Vielmehr ist das wohl meine ambivalente Sichtweise auf mich selbst. Ich frage mich, ob ich mich in dieser Interviewsituation für etwas Besseres halte." Es muss sehr anstrengend sein, Maximilian Hecker zu sein.

"Ja", bestätigt der eine Mensch auf dieser Welt, der das am besten wissen muss: "Deswegen bin ich auch 90 Prozent meiner freien Zeit allein in meiner Wohnung, denn da muss ich keine Erwartungen erfüllen." Ab Herbst wird der ehemalige Berliner Straßenmusikant wieder auf Tour gehen. Und in Japan, Korea, Hongkong und China werden ihn bei seinen Auftritten vermutlich wieder vor allem Frauen frenetisch bejubeln.